Solidarität darf niemand ausschließen
Solidarisches Handeln gründet in kulturellen, moralischen und sozialen Normen. Es bedarf in einer modernen Gesellschaft aber auch der strukturellen Absicherung durch eine aktive Gesellschafts- und Sozialpolitik. Hierbei ist wichtig, dass nachhaltige und ausreichende soziale Sicherungssysteme vorhanden sind, die alle Menschen einer Gesellschaft einbeziehen. Nur so wird gesamtgesellschaftliche Solidarität, die niemanden ausschließt, gesichert und auch denjenigen Menschen Teilhabe ermöglicht, die der besonderen Hilfe und Unterstützung bedürfen. Möglicher Entsolidarisierung, die sich durch wachsende Unsicherheit oder Zukunftsängste in der Mitte der Bevölkerung ergeben kann, muss entgegengewirkt werden.
Mit ihrer „Initiative für Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt“ rückt die Caritas in Deutschland solidarisches Verhalten in den Fokus. Von 2012 bis 2014 zeigt sie in vielfältigen Aktivitäten, wie Solidarität gestärkt werden kann und wo sie fehlt – und damit der Zusammenhalt unserer Gesellschaft betroffen ist. Nachahmenswerte Beispiele gelebter Solidarität und öffentlichkeitswirksame Beiträge zur Solidaritätsinitiative werden im Laufe der drei Jahre gesammelt und veröffentlicht. Ebenso Positionen der Caritas, die anwaltschaftlich für die Verbesserung der Rahmenbedingungen von Solidarität eintritt: Neben dem Aufstellen und Begründen sozialpolitischer Forderungen nimmt sie auch den eigenen Verband in die Pflicht, um bisher ungenutzte Potentiale für mehr Solidarität zu entdecken.
Insbesondere geht es darum, dass sich Einrichtungen und Dienste der Caritas dauerhaft auf eine gleichberechtigte Mitarbeit im sozialen Nahraum einlassen: Mit ihrer fachlichen Kompetenz und ihren Hilfsangeboten will die Caritas solidarisches Handeln in diesen Nachbarschaften nicht dominieren, sondern mit anderen gestalten und wo nötig, auch moderieren. Austausch und Vernetzung mit anderen Partnern sind wichtige "Wachstumsfaktoren" für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Und nicht zuletzt geht es der Solidaritätsinitiative um einen Bewusstseinswandel, um die Förderung solidarischer Haltungen sowohl in der Gesellschaft als auch in den eigenen Arbeitsbereichen, bei Mitarbeitenden und Klient(inn)en.
Das Signet der Solidaritätsinitiative, entwickelt vom Freiburger Grafiker Simon Gümpel, besteht aus drei Zeichen: Eine geschweifte Klammer, denn in der Mathematik fasst sie die Elemente einer Menge zusammen. In der Klammer ein Punkt. Manche erkennen ein Gesicht, das über die Klammer hinaus blickt: Neugierig und dem Nachbarn zugewandt. Und wenn der oder die "Außenstehende" Unterstützung braucht, darf man die Nase auch mal in fremde Angelegenheiten stecken – die vielleicht sehr bald schon die eigenen sind.
"Solidarität" stellt sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive in dreierlei Weise dar: Zunächst geht es um praktisches Handeln, das auf einer Verbundenheit der Akteure basiert. Solches Handeln kann nach dem Motto "Hilfst Du mir, so helf‘ ich Dir" auf Gegenseitigkeit ausgerichtet sein, heute oder in der Zukunft. Es kann aber auch ohne Erwartung einer Gegenleistung erfolgen. Es kann am Wohl von Menschen außerhalb der eigenen Gruppe orientiert oder nur auf die Realisierung von Gruppeninteressen beschränkt sein. Neben der praktischen hat Solidarität oft auch eine symbolische Komponente. Solidarität in diesem Sinne kann zum Beispiel über die Beteiligung an politischen Demonstrationen zum Ausdruck gebracht werden. Und schließlich stellt die Solidarität eine wichtige Komponente der politisch-sozialen Sprache moderner Gesellschaften dar. Der Bezug auf Solidarität kann dabei sowohl der Kommunikation von eigenen Beweggründen als auch der Forderung nach mehr Berücksichtigung der Belange Benachteiligter in Politik und Gesellschaft dienen.
Um zu einer differenzierteren Sicht von Solidarität beizutragen, ist zwischen verschiedenen Formen der Solidarität zu unterscheiden. Die "sozialstaatlich organisierte Solidarität" ergibt sich aus Rechtspflichten, die Bürgerinnen und Bürger verpflichten, im demokratischen Prozess Solidarität zu üben und dies über Steuern und Abgaben finanzieren. Nur so können Hilfebedürftige einen Rechtsanspruch auf Hilfe erhalten. Die freiwillige Solidarität wird vor allem auf der Mikroebene geübt, also in kleinen sozialen Netzen wie etwa der Familie oder in der Nachbarschaft. Sie kommt aber auch in weiträumigen Beziehungen, sogar grenzüberschreitend etwa im Rahmen von Spenden für die internationale Katastrophenhilfe zum Tragen.
Die organisierte freiwillige Solidarität ist zwischen den spontanen Formen und der staatlich organisierten Solidarität angesiedelt und mit den verschiedenen gesellschaftlichen Organisationsstrukturen verbunden. Das Spektrum der Organisationen, die Solidarität schaffen, bündeln und vermitteln, reicht dabei von Bürgerinitiativen über organisierte Selbsthilfegruppen bis hin zu sozialen Verbänden und Religionsgemeinschaften. Diese Organisationen sind stark von freiwilligem und ehrenamtlichem Engagement geprägt.
Die freie Wohlfahrtspflege mit ihren verbandlichen Strukturen nimmt hierbei eine besondere Stellung ein. Sie sieht sich selbst in der Verpflichtung, ihr Solidaritätspotenzial zu entfalten und in der Gesellschaft wirksam werden zu lassen. Auf der örtlichen Ebene sind es die einzelnen Einrichtungen und Dienste, die mit ihrer Präsenz und ihrer Arbeit nicht nur soziale Dienstleistungen erbringen, sondern zugleich zeigen, dass konkretes solidarisches Handeln auch soziale Lebenskontexte stützen, Problemlagen vermeiden sowie Not lindern und überwinden kann. In den Einrichtungen und Diensten der Caritas ist auch Raum, solidarische Grundorientierungen zu vermitteln, solidarisches Verhalten am Arbeitsplatz zu praktizieren und im Umfeld ein Klima der Zuwendung und Solidarität zu schaffen. Nicht zuletzt die ehrenamtlich und freiwillig Engagierten in der Caritas leisten einen wichtigen Beitrag zur Solidarität. Natürlich stellt es unter den heutigen Bedingungen des Kostendrucks hohe Anforderungen an Leitungen und Mitarbeitende, unternehmerisches Handeln bei der Erbringung von Dienstleistungen und solidarisches Handeln im Sozialraum zu verbinden. Oft sind auch die administrativen Regeln und Finanzierungsbedingungen hierfür nicht förderlich. Gerade deshalb ist die Sozialraumorientierung zu einem Schwerpunkt der verbandlichen Debatte geworden. Viele sind dabei, dieses Wort mit Leben zu füllen. Und dazu gehört auch die Bereitschaft, die eigene Arbeit stets daraufhin zu überprüfen, ob wir unsere Potentiale und Möglichkeiten nutzen, um Menschen zu ermutigen, ihre Belange selbst in die Hand zu nehmen.
So versteht sich die Caritas als Solidaritätsstifterin. Sie tritt für die Stärkung und Förderung freiwilliger Solidarität ein und setzt sich durch ihre politische Arbeit für eine Verbesserung der staatlich organisierten Solidarstrukturen ein.
Moderne Gesellschaften kommen nicht ohne rechtlich verfasste Verantwortlichkeiten füreinander aus. Durch Steuern, Abgaben und Beiträge für Solidarsysteme erfüllen die Bürger Solidarität als Rechtspflicht. Sie setzt ein Mindestmaß an Akzeptanz der Ausgestaltung der Solidarsysteme voraus. Außerdem müssen die Bürger im Gegenzug auch einen Rechtsanspruch auf Leistungen aus den Solidarsystemen haben. Die notwendige Umverteilung über Steuern und Abgaben muss anerkannten Gerechtigkeitsnormen genügen und als fair empfunden werden können. Die Ebene, auf der diese Regelungen entstehen, ist üblicherweise der nationale Sozialstaat bzw. seine Gliederungen. Eine solidarisch verfasste Gesellschaft hat den Anspruch, niemanden von gesellschaftlicher Beteiligung auszuschließen und deshalb jedem Bürger die notwendigen Mittel für ein menschenwürdiges Leben in einer Gesellschaft zu garantieren. Eine neue Herausforderung an die staatlich organisierte Solidarität stellen der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen und die Notwendigkeit ökologischer Nachhaltigkeit dar. Hier ist die weltweite Solidargemeinschaft gefordert.
Unterschiedliche Solidaritätsformen sind unterschiedlichen Gefährdungen oder Problemen ausgesetzt. Viele Menschen haben keinen Zugang zu Potenzialen der freiwilligen Solidarität. Bei großen Notlagen oder zur Absicherung von Lebensrisiken wird außerdem freiwillige Solidarität in vielen Fällen allein schon von der Quantität ihrer Ressourcen her nicht ausreichen, um den Bedarf zu decken. Die hohe Mobilität in modernen Gesellschaften kann dazu führen, dass gewachsene Solidargemeinschaften brüchig werden. Es eröffnen sich aber auch Chancen für neue Formen der Solidarität. Denken wir nur an neue Kommunikationsmittel oder die elektronischen Netzwerke. Die sozialstaatlich organisierte Solidarität beruht auf der Einsicht, dass Notlagen und Risiken in der Gesellschaft nicht allein in einem persönlichen Bezugsrahmen oder nur durch freiwillige Solidarität bewältigt werden können. Die Akzeptanz der damit verbundenen Rechtspflichten setzt ein solidarisches Ethos voraus, das immer neu der Begründung und Pflege bedarf. Auf zwei Probleme sozialstaatlich organisierter Solidarität sei hingewiesen.
Zu den aus dem System organisierter Solidarität selbst herrührenden Gefährdungen gehört die unvermeidbare Komplexität und Anonymität organisierter Sozialsysteme.Die Anonymität der Systeme bietet in mancherlei Hinsicht Vorteile, z.B. entlastet sie von Verpflichtungen, die häufig mit freiwilliger Solidarität verbunden sind, und stellt Hilfe ohne Ansehen der Person dauerhaft zur Verfügung. Aber sie hat auch gravierende Nachteile.
Zum Funktionieren der Solidarsysteme trägt der Einzelne durch seine Beiträge und Steuern bei. In diesem anonymen System kennt er die Empfänger der Sozialleistungen nicht. Wenn der Eindruck entsteht oder von interessierter Seite vermittelt wird, dass Sozialleistungen häufig unberechtigt in Anspruch genommen werden oder ihre Lasten ungerecht verteilt sind, kann das zu einer Rechtfertigung dafür führen, die eigene Abgabenlast ungerechtfertigt zu reduzieren (Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit oder ihre Inanspruchnahme) oder selbst Sozialleistungen oder andere staatliche Leistungen zu erschleichen. Beides kann auch dann ausgelöst werden, wenn aufgrund der Anonymität der Systeme das Gefühl vorherrscht, dass man nur "das System" ausnützt, aber keine konkreten Personen. Nicht selten sind es Angehörige höherer Statusgruppen, die ihr Wissen, ihre Erfahrung oder auch ihre größere Möglichkeit zur Einflussnahme ausspielen können, wenn es darum geht, sich nicht gerechtfertigte Vorteile im Sozialstaat zu verschaffen oder sich der Mitbeteiligung an seiner Finanzierung zu entziehen. Ein gerade aktueller Extremfall ist die Verlagerung des Wohnsitzes in Steueroasen, um Steuern und Abgaben zu entgehen.
Wo die Solidarsysteme nicht auf einem solidarischen Ethos basieren und nicht das Bewusstsein dafür vorhanden ist, dass sie nur dann in Anspruch genommen werden sollen, wenn es tatsächlich nötig ist, gefährden und untergraben sie sich selbst. Der Sinn und das tragende Ethos der Solidarsysteme müssen immer neu plausibel gemacht werden. In einer Kultur, in der die Tendenz besteht, die individuelle Vorteilssuche zur alles beherrschenden Maxime zu erklären, stellt dies eine große Herausforderung dar. Auch diesen Aspekt gilt es zu bedenken, wenn über Tendenzen der Entsolidarisierung in unserer Gesellschaft diskutiert wird.
Eine weitere Gefährdung der Solidarsysteme rührt aus dem Problem, die Generationensolidarität so zu organisieren, dass die Interessen der künftigen, heute am politischen Prozess noch nicht beteiligten Generationen eine gerechte Berücksichtigung finden. Dies zeigt sich in besonderer Deutlichkeit bei der hohen Staatsverschuldung, welche die politischen Handlungsspielräume künftiger Generationen über Gebühr einschränkt; sie verletzt aus sozialethischer Sicht das Prinzip der Nachhaltigkeit. Sie hat gleichzeitig unsere Finanzsysteme verwundbarer gemacht und viele Staaten in eine extreme Abhängigkeit von den Kapitalmärkten gebracht, die den Primat der Politik und damit die Wirksamkeit demokratischer Prozesse in Frage stellen. Die größte politische Herausforderung der nächsten Jahre wird sein, die Verschuldungsbremse, die heute Teil unserer Verfassung ist, so umzusetzen, dass Solidaritätssysteme nicht Schaden nehmen. Gerade auf die Situation in den Kommunen blicken wir hier mit Sorge. Gelingen wird diese Aufgabe nur, wenn wir den solidarischen Ethos in unserer Gesellschaft erhalten und gleichzeitig dafür sorgen, dass alle Menschen in Deutschland ihre Potentiale zu einem gelingenden und selbständigen Leben entfalten können. Wenn Befähigung gelingt, trägt dies auch zur Nachhaltigkeit der Sozialsysteme bei und hilft dabei, die Belastung der Bürgerinnen und Bürger zu begrenzen. Hier würde ich mir wünschen, dass häufiger, als dies bisher geschieht, die Leistungs- und Kostenträger und die frei-gemeinnützigen Leistungserbringer in einen produktiven Dialog miteinander kommen. Geht es doch darum, wie wir die Mittel unseres Sozialstaats besser einsetzen können, um durch Prävention und Befähigung soziale Notlagen bereits in ihrer Entstehung zu vermeiden.
Soziale Sicherung kann nicht alleine durch den Markt sichergestellt werden. Die elementaren Lebensrisiken wie Krankheit, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Pflegebedürftigkeit haben so gravierende Auswirkungen auf das Leben eines Menschen, dass es sinnvoll und notwendig ist, sie staatlich abzusichern. Gesellschaftliche bzw. staatlich organisierte Solidarität ist deswegen von Nöten, weil nur sie gewährleistet, dass alle Menschen Zugang zu Hilfen für die elementaren Lebensrisiken bekommen.
Die Existenz sozialer, solidarisch organisierter Sicherungssysteme steht in einem Spannungsverhältnis zur Eigenverantwortung, die Menschen für sich tragen. Das eine ist ohne das andere nicht vorstellbar. So ist der Sozialstaat darauf angewiesen, dass die Bürger in ihrer Mehrheit den Gedanken des freien und eigenverantwortlichen Handelns bejahen und sich entsprechend verhalten. Die Grenzen zwischen dem, was sozialstaatlich organisiert sein muss, und dem, was eigenverantwortlich übernommen werden sollte, sind dabei fließend und häufig auch umstritten. Nicht selten wird das Paradigma der Eigenverantwortung herangezogen, um sozialstaatlich organisierte Solidarität abzubauen. Dann wird das gute Prinzip der Eigenverantwortung ideologisch missbraucht. Gegen diesen Missbrauch ist zu betonen, dass sozialstaatliche Institutionen teilweise erst die Voraussetzungen und Bedingungen dafür schaffen, dass Menschen sich erfolgreich bilden oder auf dem Arbeitsmarkt bestehen können. Und nur der, der sich bis zu einem gewissen Grade abgesichert weiß, ist bereit sind, sich außerhalb seines sozialen Nahraums zu engagieren. Falsch ist es aber, wenn wir aufgrund des potentiell ideologischen Missbrauchs vor der Debatte um Eigenverantwortung zurückzuschrecken oder diesen Wert gar als "neoliberal" diskreditieren. Dem Sozialstaat muss eine Handlungsmöglichkeiten eröffnende und somit freiheitsfördernde Funktion zugeschrieben werden, denn zur Freiheit gehört auch die Eigenverantwortung. Soziale Sicherheit ist eine Voraussetzung für freies Engagement. Es lohnt sich also, das Prinzip der sozialstaatlich organisierten Solidarität zu erhalten und gleichzeitig die freiwillige und sozialstaatlich organisierte Solidarität nicht gegeneinander auszuspielen. Die gegenseitige Befruchtung von freiwilliger und organisierter Solidarität ist ein Eckpfeiler eines lebenswerten Sozialstaats.